In diesem Luxussegment wollen Alessa Wilhelm und ihre Kollegin und Freundin Theresa Theobald nicht arbeiten. Für Menschen, denen ein guter Schuh mehr wert ist als 39 Euro, aber schon. Die Frauen gründeten 2018 in Halle (Saale) die Schuhwerkstätte WURZLN, um das Handwerk einer breiteren Zielgruppe zu öffnen. Alessa und Theresa bieten individuell auf die Füße der Kund*innen angepasste, von Hand gebaute Schuhe. Im Design zeitlos schlicht, aber „mit einem Twist“, reparierbar und nachhaltig.
Ökologische Materialien und Module
„Wir hatten einen anderen Anspruch an das Material. Es sollte ökologisch sein“, sagt Theresa. Zum Einsatz kommen daher zum Beispiel pflanzlich gegerbte Leder, die als Abfallprodukt bei der Fleischerzeugung entstehen, oder Gummisohlen aus recycelten Autoreifen. „Und wir haben an der Frage getüftelt, wie die Leute für das Vermessen nicht notwendigerweise nach Halle kommen müssen.“ Die Lösung: digitaler Vertrieb und ein Maßkit, ein modulares Baukastenprinzip.
Die Kund*innen haben bei WURZLN die Wahl zwischen sechs Grundmodellen. Sie heißen Gärtner:in, Radler:in oder Holzfäller:in und sind trotz der robust klingenden Namen alltagstauglich und fürs Büro und die Stadt geeignet. Steht das Modell, konfiguriert man es durch die Module Farbe, Leisten und Sohle.
„Es hat mich von Anfang an voll begeistert, Schuhe herzustellen und das so richtig zu lernen.“ — Theresa Theobald
Maßkit vermittelt Haptik des Wunsch-Schuhs
Damit die Schuhe perfekt sitzen, bekommen die Kund*innen eine Bestellbox mit dem eigens entwickelten Maßkit zugeschickt. Das hilft nicht nur beim Vermessen der Füße, sondern beinhaltet auch Materialproben, um ein noch besseres Gefühl für den Wunsch-Schuh zu bekommen. „Manch einer würde sagen, sowas macht man heute mit einer App“, sagt Alessa. „Aber es geht uns auch darum, dass man sich mit seinem Fuß auseinandersetzt. Weil wir ein Handwerk ausüben, wollten wir von dieser Haptik ein bisschen was rüberbringen.“
Los ging es mit einer Beta-Phase. Das Kit wurde an Freund*innen getestet. Modelle wurden leicht verändert, aber am Ende hat es gepasst. „Ein Kollege meinte, das Kit und unsere Anleitung müssten in jede Berufsschule“, sagt Theresa. „Das sei besser erklärt, als wir das jemals gelernt haben, und idiotensicher.“
Die Idee zur Gründung reifte in Alessa, die ursprünglich aus dem Schwarzwald kommt, während ihrer Elternzeit 2018 in der Wahlheimat Halle. An eine Selbstständigkeit hatte sie schon länger gedacht – den Anstoß dazu hatte ein Freiwilligendienst in Ostafrika gegeben. „Äthiopien war eine Initialzündung für mich“, sagt die 31-Jährige. „Damals dachte ich, vielleicht gehe ich ja irgendwann zurück, gründe eine Schuhwerkstätte und leiste damit einen Beitrag für nachhaltige Entwicklung“, so Alessa.
Aus dem Studium in das Handwerk
Und tatsächlich: Nach dem Studium der Ethnologie und Philosophie folgte sie ihrem Drang zum Praktischen und legte damit die Basis für die spätere Gründung, wenn auch nicht in Äthiopien. Alessa begann eine Ausbildung und lernte, Schuhe zu bauen. Auch Theresa, die aus Bonn stammt, zog es nach ihrem Studium der Kulturwissenschaften zum Handwerk.
Die beiden hatten sich 2012 eher zufällig über gemeinsame Freundinnen kennengelernt. „Du hattest da schon deine Schuh-Ideen und ich habe auf jeden Fall mit dem Handwerk geliebäugelt“, erinnert sich Theresa an die erste Begegnung. Damals wollte sie noch Schneiderin werden. Bei einem Praktikum am Orchester in Hannover traf Theresa eine Orthopädieschuhmacherin, die sie auf die Idee brachte, auch Schuhmacherin zu werden. „Als ich wusste, dass ich die Ausbildung mache, war ich so richtig selig“, sagt die 30-Jährige. „Es hat mich von Anfang an voll begeistert, Schuhe herzustellen und das so richtig zu lernen.“
Mieten, gründen, experimentieren in Halle an der Saale
Dann bekam Alessas Mann einen Job an der Uni in Halle angeboten. „Theresa hatte ungefähr zeitgleich jemanden kennengelernt, der auch in Halle war“, sagt Alessa. Leipzig war kurzzeitig eine Option als Wohnort. Unabhängig voneinander entschieden sich die beiden Frauen jedoch für Halle.
Dann führte eins zum anderen. „Mein Vermieter hatte mir die Kellerräume in unserem Wohnhaus als Werkstatt zu sehr günstigen Konditionen angeboten“, sagt Theresa, die damals für einen Schuhmacher in Leipzig jobbte und in ihrem Wohnzimmer schusterte. Ein paar Monate später, im Frühling 2018, beschlossen sie, eine gemeinsame Werkstatt zu gründen.
Ihr Motto: Wir versuchen das einfach. Unterstützung fanden sie zunächst beim Transfer- und Gründerservice der Uni Halle. „Da ging es um konkrete Fragen der Gründung, wie die Frage nach der Rechtsform“, sagt Alessa. „Wir haben zig Flyer in die Hand gedrückt bekommen zu Vernetzungs- und Beratungsangeboten. Doch wir mussten erst einmal selbst klarkommen. Vor allem die technischen Aspekte konnte uns niemand abnehmen.“ Heute lachen die beiden, wenn sie an ihr langes Experimentieren mit dem richtigen Klebeverfahren für die Autoreifen-Sohle denken oder die kuriose Kaufabwicklung einer alten Schusterpresse. Damals hat es sie vor allem Zeit und Nerven gekostet. Im November 2019, nachdem auch Theresa Mutter geworden war, gingen die ersten Aufträge raus. Wenig später bremste die Corona-Pandemie das Unternehmen aus.
Mit der Crowd zum neuen Showroom
Ihr hilfreichstes Beratungsgespräch in der Zeit? „Das fand mit einer Betriebswirtin der Handwerkskammer Halle statt“, sagt Theresa. Nachdem klar war, dass es für die Anschaffung ihrer notwendigen Betriebsausstattung kein passendes Förderprogramm gab, riet sie den Gründerinnen zu einer Crowdfunding-Aktion.
Im Herbst 2020 baten die Schuhmacherinnen auf der Plattform Startnext um finanzielle Unterstützung für den Ausbau ihrer Werkstatt zu einem Showroom. Im Gegenzug erhielten die Förder*innen kleine Dankeschöns wie Schuhlöffel oder große wie handgefertigte WURZLN-Schuhe. Die Kampagne wurde ein Erfolg. Die Schuhmacherinnen sammelten fast 12.500 Euro ein. Doch damit nicht genug. „Ohne die Crowdfunding-Kampagne hätten wir keine Deadline gehabt, um unseren Web-Auftritt, Grafik und Fotos anzugehen“, sagt Alessa. „Wenn man zu zweit ist, selbst produziert, Buchhaltung und all das hat, kommst du dazu nicht.“
Kurse für mehr Sichtbarkeit in der Stadt
Wenn die Pandemie überstanden ist, wollen die Schuhmacherinnen Kurse anbieten und zeigen, wie sich zum Beispiel Sandalen selbst bauen lassen. Es geht ihnen auch darum, in Halle sichtbarer zu sein. Da in der Stadt immer mehr Schuster*innen zugemacht haben, bieten Alessa und Theresa nun auch einen Reparaturservice für Schuhe jeglicher Art an. „Wir glauben, dass unser Geschäftsmodell stark von dem persönlichen Kontakt abhängt und von dem sinnlichen Erlebnis“, sagt Alessa. „Beides wird durch Corona erschwert.“ Dabei sei nun der Zeitpunkt gekommen, an dem der kleine Betrieb regelmäßige Einnahmen brauche.
Ein großes Plus des Standorts Halle: die sehr günstige Miete. Ohne die und den Rückhalt der Familie wäre Corona der „Genickbruch“ für WURZLN gewesen, sind sich die beiden Frauen sicher. Was sie sich für ihr Unternehmen wünschen? „Dass es läuft“, sagt Theresa. „Ich glaube, wir sind schon auf einem guten Weg. Es entwickeln sich zum Glück immer neue Projekte und Ideen, was ja das Schöne und Lebendige an unserem Beruf und der Selbstständigkeit ist.“
Veröffentlicht am 8. Juni 2021
Autorin: Anne Breitsprecher
Fotografin: Carolin Krekow